Pressestimmen zur 24h-Performance von Wolfgang Borcherts „Das ist unser Manifest“

Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes rang Matthias Heße 75 Mal und insgesamt 24 Stunden lang mit dem Text „Das ist unser Manifest“ von Wolfgang Borchert. Wir sind dankbar für die berührende Begegnungen, die innerhalb dieser 24 Stunden im und vor dem Theater stattfanden; zwischen Matthias Heße und den Zuschauer*innen, zwischen dem Kriegsverwundeten Schriftsteller und Moerser Bürger*innen von heute, 75 Jahre danach. Das gemeinsame Innehalten, gerade zur Zeit, hat gut getan und Mut gemacht. – Hier teilen wir zwei Berichte, einmal zum Nachlesen, einmal zum Nachhören, zu diesem besonderen Theatererlebnis:

24 Stunden mit Matthias Heße

Helm ab“. Es ist High Noon: 12.00 Uhr mittags an diesem 8. Mai 2020. Der Rezensent holt sich einen Kaffee aus der Küche und schaltet den Live Stream des Schlosstheaters Moers an. Dort tritt Matthias Heße ans Mikrofon, macht sich locker und schüttelt ein wenig die Beine aus. „Helm ab…“ – Heße räuspert sich. Man spürt: Da hat einer Respekt vor der vor ihm liegenden Aufgabe. „Helm ab Helm ab: Wir haben verloren.“ […]

Um 14.50 Uhr bin ich live dabei. Für den Schauspieler ist es Runde 9. Er beginnt sehr schnell, überfordert mich zunächst fast ein wenig, aber natürlich entwickelt die Live-Begegnung eine größere Intensität als das Zuschauen zu Hause am Bildschirm. Die Stelle mit den weinenden, aber sich nicht abwendenden Müttern betont Heße diesmal besonders. Mehr als zuvor am Bildschirm fällt mir die permanente Wiederholung des Begriffs „lila“ auf: Alles ist lila, der Stahl der kaputten Kanonen, die frierenden Kinder, die magere Milch, der Himmel, die Haut der Mädchen, ja: sogar das Geschrei, das Gestöhn‘, die Erlösung: die Welt. Einschließlich des Karussells aus der Jazz-Sause, denn auch die Vergnügungen bedeuten noch lange keine Erlösung. […]

Um 20.00 h erklingt das „Helm ab“ im Befehlston. Draußen wird es kühl; auf dem Stuhl, den Heße mal mehr, mal weniger nutzt, hängt jetzt eine Jacke. „Wer schreibt uns jetzt eine neue Harmonielehre?“, fragt der Schauspieler wieder einmal: „Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.“ Die Kriegserfahrungen, die Traumatisierungen, die gebrochenen Herzen, mit denen man ab jetzt nur noch auf Deutschland schauen kann, haben ihre Spuren hinterlassen. Am Nachmittag hatte Heße diese Passage einmal in einer Art Lehrerton gesprochen, jetzt wirkt es, als spräche er den ihm gegenüber sitzenden Zuschauer unmittelbar an. Manchmal flüstert er, manchmal – für kurze Intermezzi nur – schreit er.

Um 21.00 Uhr öffnet er das Fenster – viermal in diesen 24 Stunden klettert er auf die Fensterbank und spricht nach draußen, für ein zufälliges oder verabredetes Publikum im Außenbereich. Danach gibt es eine Pause. Kakophonische Heavy Metal Musik erklingt, und am Bildschirm leuchtet die Schrift: „zero tolerance for silence“. Empört Euch, will uns das Schlosstheater sagen. Nie wieder sollen wir bei kriegerischen Konflikten, bei Genoziden oder Rassismus wegschauen: Macht die Klappe auf, und wenn ihr 24 Stunden durchredet.

22.00 Uhr. Heße wird immer besser. Mal spricht er eindringlich, mal beschwichtigend: „Unser Manifest ist die Liebe.“ Was manchmal Wutrede ist, wird in anderen Durchgängen zum Appell an die Vernunft. Einmal kommt das „Helm ab“ wie das Starter-Signal beim 100-m-Lauf. Heße aber absolviert einen Marathon. Die Scheinwerfer laufen heiß und benötigen eine Pause, Heße aber ist keine Ermüdung anzumerken.

Um 3.40 Uhr empfängt mich der Schauspieler hellwach. Es ist als hätte er meine Gefühlsregungen auch am heimischen Laptop mitempfunden: Er legt eine Performance hin, die sich hundertprozentig am Geschmack des Rezensenten orientiert. Hatte der Text bei meinem Besuch vor 13 Stunden wuchtig, schwierig und anspruchsvoll gewirkt, spricht Heße nun nachdenklich, suchend. Er wechselt von Blickkontakt zur sinnierenden Innenschau und zurück. Der Kriegsheimkehrer scheint manche seiner Erlebnisse schon verarbeitet zu haben. Er zieht nun Schlüsse aus dem Erlebten. Aus Wut ist Nachdenklichkeit geworden.

Gegen 11.40 Uhr öffnet Heße noch einmal das Fenster. Ich habe inzwischen ein paar Stunden geschlafen; er spricht nun die 75. Runde, die vierte Fensterrunde. Der Krieg ist verloren, der Marathon gewonnen. […] Warum, frage ich mich plötzlich, gehe ich eigentlich lieber ins Theater als ins Kino? Ein perfekter Film bleibt ein perfekter Film, auch wenn man ihn zum dritten oder zehnten Mal sieht. Theater ist jedes Mal anders. […] Das ist Leben – Film ist Fiction. Matthias Heße spielt an diesem Tag mit dem Live-Erlebnis Theater. Er hat sich vorgenommen, 75mal anders zu spielen. Nie tut er das exaltiert, nie dekonstruierend, sondern immer voller Respekt für den Text. Dass das funktioniert, ist eines der vielen Wunder des Theaters.

http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2020/05/moers-manifest.html

(Dietmar Zimmermann, theater:pur, 11.05.2020)

 

75 Jahre Kriegsende: 24-Stunden-Performance in Moers

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-aktuelle-kultur/audio–jahre-kriegsende–stunden-performance-in-moers-102.html

(Eva Karnofsky, WDR 5 Scala, 08.05.20)

 

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