Wer Kafka verständlich machen will, ist fehl am Platz oder in der Schule. Jedenfalls nicht im Theater. Einen Kafka-Text auf die Bühne zu bringen, das bedeutet, eine weitere poröse Zeichenschicht über die Sprache zu legen. Ulrich Greb potenziert Kafkas Mehrdeutigkeit in seiner Inszenierung von Kafkas später, unabgeschlossener Erzählung „Der Bau“.
Wir sehen Szenen aus dem Leben der Dachse: wie sie sich streiten, einander an die Gurgel gehen, sich mit ihren Afterdrüsen besprühen, kopulieren, fäkalisieren, sich mit röchelnden Kehllauten anbellen, sich aneinanderkuscheln. Die Berührungspunkte zwischen Textebene und Aktionsebene sind selten, dann aber spürbar. Wenn das Tier ruhig in seinem Bau schläft, steigen die vier Mischwesen auf herabhängende Steigbügel und schweben so still, sanft schwankend über dem Boden inmitten der glitzernden Plastikstreifen. Ein ungeahnt bizarres, wahrhaft unterirdisches, aber suggestives Traumbild.
Dann glaubt das Tier das Zischen zu hören. Wir hören zunächst gar nichts. Das gefährliche Geräusch ist nur ein paranoides Bewusstseinsphänomen. Bruchstücke eines Walzers von einer knisternden alten Schallplatte erklingen. Die vier Wesen fangen an zu zittern, gehen über zu einem Gezappel, dann zu einem wilden, minutenlangen, sich beschleunigenden Stampfen. Wut und Panik: der Feind wird gesucht, der man doch selbst ist.
Gerhard Preußer, Nachtkritik
Die Inszenierung ist sehr politisch, auf die Gegenwart bezogen, hat auch ein hohes ästhetisches Niveau. Der Umgang mit Kafkas Sprache überzeugt und bringt das Ganze auf eine andere Ebene. Es sind keine direkten aktuellen Bezüge durch Fremdtextcollagen. Greb verlangt vom Publikum, dass man mitdenkt und das überträgt. (…)
Es ist eine Aufführung mit einem sprühenden, spielfreudigen Ensemble. Und das hat Moers die ganzen Jahre unter Greb immer ausgemacht.
Stefan Keim, WDR 3
Dieses Selbstgespräch konnte Kafka nicht vollenden, der Schluss schlägt dennoch eine beunruhigende Brücke ins Heute. Das Belauern des unsichtbaren Feindes scheint bei diesem keinerlei Reaktionen auszulösen: „Aber alles blieb unverändert.“
Die Beschreibung der inneren Unruhe, der Sehnsucht nach „Stille“, die wiederum sehr nah an einer Grabesstille liegen dürfte, scheint eine geradezu prophetische Psychoanlyse Kafkas für unsere aufgewühlte, sich in vielem selbst betrügende Gesellschaft zu sein. Obwohl nur wenig Musik eingespielt wird – aus Verdis „La traviata“ oder Technosounds – ist dieser „Bau“ sehr musikalisch komponiert. Die inneren Stimmen ergänzen sich, relativieren einander, widersprechen sich selten. Die seelischen Pendelbewegungen des abgestumpften Ich sind durch szenische Rhythmuswechsel variiert, die tumben Körper bewegen sich tänzerisch (Choreografie: Alessia Ruffolo), verheddern sich in den Plastikstreifen und entkommen zuweilen auf die freie Bühne, wo sie zwischen Lust auf Freiheit und Angst vor Ausgestellt-Sein schwanken. Immer scheint aber durch die szenische und akustische Komposition die innere Zerrissenheit zwischen vermeintlicher Zufriedenheit und fortwährender Sorge vor anderen Wesen auf.
Detlev Baur, Die deutsche Bühne
Kafkas Erzählung „Der Bau“, die wenige Monate vor dessen Tod 1924 entstand, wird zum Gleichnis für das Leben in Zeiten von Egoismus und Misstrauen, von Konkurrenz und Neid als Lebensmuster, von Angst und Entsolidarisierung. Ein Tier mit menschlichem Bewusstsein erklärt, wie es sich im Wald unter der Erde einen Rückzugsort mit vielen Gängen und Plätzen, mit Moos als Tarnung und Falltüren gebaut hat. Die große Ausdehnung aber, die für Sicherheit sorgen sollte, schürt immer mehr und neue Ängste des Wesens, das in seinen äußeren Merkmalen nicht näher beschrieben wird. Auch das defensive Wettrüsten mit völlig unbekannten Gegnern schürt am Ende nur die Unsicherheit. Vor allem aber sind es vier Stimmen, die den Text des einen Wesens übernehmen, die sich anfangs sogar unablässig zur Seite drängen, um reden zu können – Schizophrenie hoch zwei, auch wenn die Sorgen und Nöte, von denen wir da hören, im Detail völlig nachvollziehbar, ja logisch sind. Die Vereinzelung von Wesen, die gesellschaftsfähig wären, wird hier auf die absurde Spitze getrieben.
Der Clou aber ist ein metertiefer Vorhang aus durchsichtigen Plastikstreifen, der den verschwimmenden Blick auf das Geschehen nur widerwillig freigibt. Da sind wir dann schon bei fundamentaler Erkenntnis-Skepsis, zumindest aber im Wissen um die Unschärferelationen menschlicher Einsichten.
Dazwischen verfallen Marissa Möller, Matthias Heße, Leonardo Lukanow und Ludwig Michael vom Reden ins Zischeln, Fauchen und Jaulen wölfischer Menschen. Gegen Ende werden sie wie Marionetten ihrer Ängste und Sehnsüchte sprichwörtlich in den Seilen hängen. Die allzu sichtbare Leerstelle des Stücks – menschliche Solidarität – bildet seinen unsichtbaren Hoffnungsschimmer.
Jens Dirksen, WAZ
Greb bleibt bei Kafkas Text, der düster genug ist. Aber es ist eine Art weicher, psychischer Düsternis, die aus Kafkas Text spricht, eine übersteigerte Angst vor dem Egoismus einer unsolidarischen, feindlichen Außenwelt. Bei Greb bekommt die Düsternis Härte. Sein Ich-Erzähler zeigt deutliche Anzeichen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Angst und Isolation führen nicht nur zu Gier und Paranoia, sondern zu aggressivem Narzissmus. Man geht auf Kriegspfad. Die Stöckelschuhe haben nichts Weiches oder Feminines, sondern sie fungieren als Marsch-Stiefel. Alessia Ruffolo hat für die Aufführung eine Choreographie geschrieben, die soldatische, militaristische Anklänge hat. Undefiniert ist die Beziehung der vier Figuren zueinander. Sie können bisweilen wie ein homogener Körper agieren, wie ein dem gleichen Ziel verschriebenes Heer. Einmal gehen die vier Akteure nach erfolgtem Feldzug aufeinander zu und reichen einander die Hände, wie Menschen nach einer im Kampf oder auch in einer Verhandlung bestandenen Auseinandersetzung. Da ist schon nicht mehr sicher, ob es sich um eine gegenseitige Gratulation handelt oder um das Besiegeln eines Waffenstillstands.
Der Konflikt zwischen berechtigtem Sicherheitsbedürfnis und paranoider Angst erscheint hochaktuell. Die irrlichternden, narzisstischen Gedanken, die Grebs Inszenierung (ohne den Kafka-Text zu verlassen) hervorhebt, führen die Gedanken des Zuschauers von der Ideologie der Nazis zur Autokratie und zum Triumphgeheul eines Donald Trump. Eine knappe Woche vor der Moerser Premiere hat der die Solidarität mit der westlichen Welt aufgekündigt und ein seit fast 80 Jahren festgefügtes Bündnis zerschlagen.
Dietmar Zimmermann, theater pur